Requiem 16.90
vom Dunkel ins Licht
Programm und Eintrittskarte
Les Chantres de Saint-Hilaire Sauternes
Leitung François-Xavier Lacroux
Astrid Vehstedt, Mise-en-espace
Barockmusik mit Bewegung
Requiem 16.90 ist ein musikalischer ZeitRaum zwischen Himmel und Erde, zwischen Barock und Zeitlosigkeit; es ist eine Art Flucht aus einer aufgewühlten Welt. Mit der Messe “en plain-chant” von Louis Chein (1690) in einer harmonisierten Fassung, kommen Les Chantres de Saint-Hilaire Sauternes wieder zu ihren Ursprüngen zurück. Sie stellen die Interpretation dieses Werkes dem “plain-chant gallican” gegenüber in einer Raumgestaltung durch die Regisseurin Astrid Vehstedt (Berlin), die gleichermassen ungewöhnlich wie beweglich und bewegend ist. Der scheinbar unbewegliche “plain-chant” trifft auf Bewegung und erweckt dadurch eine besondere Emotion. Die wunderschönen und besonders seltenen Motetten von Bouzignac und Tabart werfen umso mehr ein Licht auf den Gesang für die Verstorbenen, der gleichzeitig auch ein Gesang des Lichtes selbst ist. Die 8 Sänger*innen (Chantres) werden von den Holztrompeten,Barockposaune, Serpent, Viola da Gamba, Violone, Orgel und Theorb begleitet: ein Ensemble, wie es um das Jahr 1690 in der Liturgie üblich war.
Die Idee der Inszenierung
Wenn man für die Aufführung eines Requiems den einfachen Konzertsaal verlässt und zu einer räumlichen Konzeption übergeht, gewinnt die das Thema und der Text an Bedeutung. Es geht nicht mehr nur um das musikalische Ereignis, sondern es müssen folgende Fragen gestellt werden: Warum wird ein Requiem aufgeführt? Für wen wird es aufgeführt? Zu welchem Anlass wird es aufgeführt?
Das Requiem ist eine Messe für Verstorbene. Wenn man sich ihren Inhalt genauer ansieht, ist es sowohl ein Schreckensszenario als auch eine fast existenzielle Bitte, den oder die Verstorbenen vor Strafe und imaginärer Finsternis zu retten und ihnen das "ewige Licht" zukommen zu lassen. Die angekündigten Strafen beziehen sich auf irdische Vergehen. Am Tag der großen Abrechnung wird die Welt gerichtet, genauer: durch Feuer vernichtet. Daher die immer wiederkehrende Forderung, den Menschen zu verschonen. Er erklärt, dass "das Höllenfeuer die Bösen verurteilen während Gott die Guten zu sich rufen wird". Die Welt wird "durch das Feuer" zerstört werden. Die niederländischen Maler Hieronymus Bosch und Pieter Breughel hatten diese Horrorwelt bereits im 15. und 16. Jahrhundert gemalt. Ihre Hölle war sehr real: Es war die Hölle des Krieges und der von Menschen ausgeübten Gewalt. Die Hölle, das sind wir.
Auch heute, im Jahr 2023, gibt es leider genügend Anlässe, der Toten zu gedenken und an die von Menschen verursachten Schrecken zu erinnern.
In "Requiem 16.90" ist aber nicht nur die Erinnerung präsent, sondern auch der Gedanke der Besinnung, zeitgenössischer ausgedrückt: der Entschleunigung.
Die Musiker
Cécile Larroche, Sopran
Barbara Bajor, Sopran
Guillaume Figiel Delpech, Counter-Tenor
Pierre Perny, Tenor
Jean-Fernand Setti, Baryton
Tomasz Kumiega, Bass
François-Xavier Lacroux, plain-chant und Leitung
Benjamin Bédouin, Holztrompete
Amélie Pialoux, Holztrompete
Stéphane Muller, Barockposaune
Udo Zimmermann, Serpent
Isabelle Duluc, Viola da Gambe
Benoît Bératto, Violone
Takahisa Aida, Positivorgel
Ondrej Jaluvka, Theorb
Regie (Mise-en-espace) : Astrid Vehstedt
Das Programm
Teil 1 : Ein Gang ins Ungewisse
1- Ad processionem / Subvenite
plain-chant der Kathedral von Versailles
2 - Introitus / Requiem aeternam
Louis Chein
3 - Kyrie
Louis Chein
Teil 2 : Abstieg in den Tod
4 - Graduale / Requiem aeternam
Louis Chein
5 - Tractus / Absolve Domine
plain-chant der Kathedral von Versailles
6 - Prosa / Dies irae
plain-chant der Kathedral von Versailles
7 - Motetus / Ah morior !
Guillaume Bouzignac
Teil 3 : Der dumpfe Schmerz der Zeit
8 - Offertorium / Domine Jesu Christe
Louis Chein
9- Praefatio / Vere dignum
plain-chant der Kathedral von Versailles
10 et 11 - Sanctus und Benedictus
Louis Chein
12 - Agnus Dei
Louis Chein
Teil 4 : Die Besänftigung des Lichts
13 - Communio / Lux aeterna
Louis Chein
14 - Répons / Ne recorderis
Louis Chein
15 - Motetus / Libera me
Pierre Tabart und plain-chant
16 - Regressio / In pace in idipsum
Guillaume Bouzignac
Die Partituren
Alle ausgewählten Partituren wurden nie wirklich recherchiert und solide und ernsthaft gebaut interpretiert. Es sei darauf hingewiesen, dass das Graduel der Kathedrale von Versailles* (das jedoch erst nach dem Schreiben dieses Buches zugeschrieben wurde) bei der Nationalbibliothek hinterlegt und nicht veröffentlicht wird. Es gibt also auch eine Schreibarbeit zu tun. Der Respekt vor den Quellen ist von entscheidender Bedeutung. Was einen Blick auf die Gegenwart, die in der Zeit verankert ist, nicht ausschließt. Das Requiem von Louis Chein wird verlegt vom Centre de Musique Baroque de Versailles. François-Xavier Lacroux denkt seit mehr als 20 Jahren über dieses Werk nach, und es ist ein Stück, das die Entstehung der Gruppe markierte. Und es gab schon eine starke Anziehungskraft auf den französischen Plain-Chant. Der von Louis Chein ist harmonisiert als Polyphonie der späten Renaissance. Diese fast archaische Form lebt mit moderneren Farben zusammen. Dadurch kommt das Stück den Werken von Bouzignac und Tabart sehr nahe. Die fast a-rhythmische Form des Requiems hilft, in die Zeitlosigkeit einzutauchen und die Langsamkeit des Plain-Chants und seine Trennung vom Realen zu verlängern. Das Stück von Tabart, hyperrhythmisch, kontrastiert und gibt Rhythmus, weckt die Sinne, weckt Alarm. Immer in der Perspektive eines schmerzhaften Weges zum Licht.
*Französischer Plain-Chant
An Quellen des Plain-Chant Gallican mangelt es nicht! Dieser barocke, in quadratischen Noten notierte Gesang zieht sich durch das 16. und 17. Jahrhundert und ist in den großen Antiphonen und Gradualen der Kathedralen noch gut vertreten. Hier wurde ein Graduale von Saint-Louis de Versailles ausgewählt, das 1686 herausgegeben wurde und in der BNF (Bibliothèque Nationale de France) aufbewahrt wird.
Die Komponisten
Louis Chein (1637 - 1694)
Geboren in Paris, war er ab 1645 Chorknabe an der Sainte-Chapelle, wo er später Kaplan wurde. Schnell stieg er zum „maître de chapelle“ an der Kathedrale von Quimper auf. Als Serpentist ist er vor allem für sein vierstimmiges Requiem bekannt, das 1690, kurz vor seinem Tod, veröffentlicht wurde. Es ist ein Werk von hoher Qualität und steht in der großen französischen Tradition des harmonisierten und verzierten „plain chant“, der dennoch einen leicht archaisierenden Charakter hat, unterstrichen durch die Verwendung von Ligaturen. Das einzige bekannte Exemplar wird in der Bibliothèque Municipale de Lyon aufbewahrt und stammt aus dem Bestand der Compagnie de Jésus. Von Louis Chein sind auch zwei weitere Messen für die Sainte-Chapelle überliefert.
Pierre Tabart (1645 - 1716)
Als Zeitgenosse von Louis Chein war zunächst „maître chapelle“ an der Kathedrale von Tours, dann in der Kathedrale von Orléans und schließlich in Meaux. Er war auch Musiker von Bossuet, ein Posten, auf den ihm Sébastien de Brossard folgte. Von ihm sind nur wenige Werke erhalten, darunter ein Requiem, eine Messe und drei Motetten. Pierre Tabart zeichnet sich durch einen eher altmodischen Stil in einem traditionellen Kontrapunkt aus, der jedoch relativ stark von der Tonalität durchdrungen ist. Damit schließt er sich den beiden anderen Komponisten dieses Requiems 16.90 an.
Guillaume Bouzignac (1587 - 1643)
Er ist zwar der älteste Komponist dieses Programms, schrieb aber als Priester und Komponist in einem für seine Zeit sehr fortschrittlichen Stil. Damit hatte er großen Erfolg. Geboren im Languedoc, übernahm er nach seiner Ausbildung zum Chorknaben schnell Aufgaben in Narbonne, Angoulême, Grenoble, Bourges, Rodez, Montauban und schließlich Clermont-Ferrand. Auch wenn zu seinen Lebzeiten nichts veröffentlicht wurde, reichte sein Ruf weit über die Städte hinaus, in denen er wirkte. Das Manuskript von Tours enthält eine beträchtliche Anzahl seiner Werke, die nicht signiert sind. Bouzignac zeichnet sich durch einen oft dramatischen, spannungsgeladenen, bereits stark barocken Stil aus. Die beiden hier ausgewählten Motetten sind dafür charakteristisch.